Altersstereotypen im therapeutischen Setting: Auswirkungen für ältere Klient:innen

WiseLearn Plattform/ März 14, 2025

Da die globale Population im Alter von 65 Jahren und älter zunimmt, wird auch eine wachsende Zahl an älteren Erwachsenen Psychotherapie in Anspruch nehmen. Es ist daher wichtig, dass wir potentielle Herausforderungen im therapeutischen Prozess mit älteren Klient:innenen erkennen – darunter unbewusste Altersstereotypen, die Psychotherapeut:innen verinnerlicht haben. Lesen Sie hier, wie Altersstereotypen den therapeutischen Prozess beeinflussen können und wie ihre Auswirkungen verhindert und bewältigt werden können.

Altersstereotypen unter Psychotherapeut:innen

Ein häufiges altersabwertendes Stereotyp im therapeutischen Kontext ist die Vorannahme, dass ältere Klient:innenweniger von der Therapie profitieren würden, aufgrund angeblich geringerer kognitiver Flexibilität. Solche Stereotype können die Wahrnehmung der Therapeut:innen gegenüber ihren Klient:innen beeinflussen und wiederum ihr Verhalten ihnen gegenüber prägen; was den gesamten Therapieprozess beeinflussen kann:

  • Diagnostik: Die Forschung zeigt, dass Psychotherapeut:innen mit geringer formaler Ausbildung oder praktischer Erfahrung mit älteren Erwachsenen häufiger altersabwertende Stereotypen und Einstellungen aufweisen (Burnes et al., 2019) und seltener klinische Diagnostik mit älteren Klient:innen durchführen (Qualls et al., 2002). Die klinische Diagnostik ist entscheidend, um von Anfang an die notwendigen Informationen für eine wirksame Behandlung zu sammeln. Dies ist besonders wichtig, insofern psychische Störungen im höheren Lebensalter häufig sind (Andreas et al., 2017), oft jedoch unerkannt bleiben (Gundersen & Bensadon, 2023; Risch & Wilz, 2015).
  • Therapeutische Zielsetzung: Zu Beginn der Therapie, wenn Psychotherapeut:innen noch wenig Informationen über ihre Klient:innen haben, verlassen sich Psychotherapeut:innen mehr auf Stereotypen und Vorurteilen (Kite & Johnson, 1988, zitiert nach Kessler & Bowen, 2015). Deshalb spiegeln therapeutische Ziele, die zu Therapriebeginn festgelegt werden, womöglich die Bedürfnisse älterer Klient:innen nicht angemessesn wider, was sich negativ auf den Therapieverlauf auswirken kann.
  • Therapieplan und Therapieelemente: Die Forschung zeigt, dass Psychotherapeut:innen in der Ausbildung älteren Klient:innen in der Tendenz eher Kurzzeittherapien anbieten (z. B. 25 Sitzungen anstelle von 45 Sitzungen) und bestimmte Therapieelemente, wie zum Beispiel die sogenannte „motivationale Klärung“, bei älteren Klient:innenn seltener anwenden (Kessler & Schneider, 2019). Dies geschieht womöglich aus der altersstereotypen Annahme heraus, dass ältere Klient:innen weniger fähig oder bereitwillig sind, über die Motive hinter ihrem Verhalten und ihren Erfahrungen nachzudenken.
  • Dynamik zwischen Psychotherapeut:in und Klient:in: Jede:r Psychotherapeut:in reagiert aufgrund eigener ungelöster innerer Konflikte gelegentlich mit bestimmten Gedanken, Gefühlen oder Verhaltensweisen auf seine Klient:innen. Dies ist auch bei der Arbeit mit älteren Klient:innen der Fall: Es wird vermutet, dass es dabei von eigenen, unbewältigten Ängste der Psychotherapeut:innen vor dem Älterwerden ausgeht. Folglich entwickeln Psychotherapeut:innen teils verzerrte Vorstellungen von ihren älteren Klient:innen und betrachten sie dadurch als eine gebrechliche, abgegrenzte Gruppe. Oder sie distanzieren sich von älteren Klient:innen, indem sie bestimmte Aspekte wie ihre Sexualität vernachlässigen (Lederman & Shefler, 2023), ihre Emotionen ausser Acht lassen und sich stattdessen mehr auf den Gesprächsinhalt konzentrieren, das Thema wechseln oder langes Schweigen erzeugen (Bandura et al., 1960, zitiert nach Hayes et al., 2011).

Was können Psychotherpeut:innen tun?

  • In Aus- und Weiterbildung investieren: Psychotherapeut:innen können von gezielten Aus- und Weiterbildungen profitieren, um unbewusste altersabwertende Stereotype und Einstellungen überhaupt erst zu verhindern oder zumindest zu reduzieren. Dazu gehören Praktika, um praktische Erfahrungen zu sammeln und generationenübergreifenden Kontakt zu fördern, sowie spezialisierte Kurse in der Gerontopsychologie – einem Fachgebiet der Psychologie, das sich auf ältere Erwachsene und ihr Wohlbefinden konzentriert.
  • Selbstreflektion: Tests wie der sogenannte Age Implicit Association Test, der implizite, d.h. bewusste, altersabwertende Stereotype und Assoziationen testet, kann von Psychotherapeut:innen zur Selbstrefelktion genutzt werden. Es kann zudem auch wertvoll sein, über frühere therapeutische Entscheidungen nachzudenken und zu überlegen, ob unbewusste Altersassoziationen bei diesen Entscheidungen eine Rolle gespielt haben könnten.
  • Supervision: Es sollte regelmässiger Austausch mit Kolleg:innen und Supervisor:innen stattfinden über die oben genannten unbewussten Reaktionen – und wie diese zu bewältigen sind. Indem Psychotherapeut:innen über diese Gedanken, Gefühle und Reaktionen sprechen, können sie lernen, diese sogar therapeutisch zu nutzen, anstatt deren negativen Einfluss zuzulassen.

Zum Schluss

Altersstereotypen können auf subtile Weise wichtige Aspekte des therapeutischen Prozesses beeinflussen, von der Diagnostik über die Zielsetzung und Behandlungsplanung bis hin zur therapeutischen Beziehung. Mit entsprechender Ausbildung, Selbstreflexion und Supervision können Psychotherapeut:innen lernen, mit den Auswirkungen dieser Stereotype und Vorurteile umzugehen, um sicherzustellen, dass alle Klient:innen eine möglichst wirksame und respektvolle Behandlung erhalten.

Über die Autorin

Angela Kolb ist eine Psychologie-Masterstudentin mit Schwerpunkt in klinischer Psychologie an der Universität Zürich. Sie arbeitet zeitgleich als wissenschaftliche Assistentin im Departement Gerontopsychologie und Gerontologie, und ist am Projekt «Jedes Alter zählt» mitbeteiligt. Dieser Blogpost enstand im Rahmen eines Seminars zu Ageismus im Masterstudiengang Psychologie an der UZH.t. Aenean diam dolor, accumsan sed rutrum vel, dapibus et leo.

Referenzen

About the IAT – Project Implicit. (o.J.). Abgerufen December 26, 2024, von https://www.projectimplicit.net/resources/about-the-iat/

Andreas, S., Schulz, H., Volkert, J., Dehoust, M., Sehner, S., Suling, A., Ausín, B., Canuto, A., Crawford, M., Da Ronch, C., Grassi, L., Hershkovitz, Y., Muñoz, M., Quirk, A., Rotenstein, O., Santos-Olmo, A. B., Shalev, A., Strehle, J., Weber, K., … Härter, M. (2017). Prevalence of mental disorders in elderly people: The European MentDis_ICF65+ study. British Journal of Psychiatry, 210(2), 125–131. https://doi.org/10.1192/bjp.bp.115.180463

Burnes, D., Sheppard, C., Henderson, C. R., Wassel, M., Cope, R., Barber, C., & Pillemer, K. (2019). Interventions to Reduce Ageism Against Older Adults: A Systematic Review and Meta-Analysis. American Journal of Public Health, 109(8), e1–e9. https://doi.org/10.2105/AJPH.2019.305123

Butler, R. N. (1969). Age-Ism: Another Form of Bigotry. The Gerontologist, 9(4 Part 1), 243–246. https://doi.org/10.1093/geront/9.4_Part_1.243

Gundersen, E., & Bensadon, B. (2023). Geriatric Depression. Primary Care: Clinics in Office Practice, 50(1), 143–158. https://doi.org/10.1016/j.pop.2022.10.010

Hayes, J. A., Gelso, C. J., & Hummel, A. M. (2011). Managing countertransference. Psychotherapy, 48(1), 88–97. https://doi.org/10.1037/a0022182

Kessler, E.-M., & Bowen, C. E. (2015). Images of Aging in the Psychotherapeutic Context: A Conceptual Review. GeroPsych, 28(2), 47–55. https://doi.org/10.1024/1662-9647/a000129

Kessler, E.-M., & Schneider, T. (2019). Do Treatment Attitudes and Decisions of Psychotherapists-in-Training Depend on a Patient’s Age? The Journals of Gerontology: Series B, 74(4), 620–624. https://doi.org/10.1093/geronb/gbx078

Lederman, S., & Shefler, G. (2023). You can’t treat older people without “getting old” yourself: A grounded theory analysis of countertransference in psychotherapy with older adults. Professional Psychology: Research and Practice, 54(5), 352–360. https://doi.org/10.1037/pro0000523

Qualls, S. H., Segal, D. L., Norman, S., Niederehe, G., & Gallagher-Thompson, D. (2002). Psychologists in practice with older adults: Current patterns, sources of training, and need for continuing education. Professional Psychology: Research and Practice, 33(5), 435–442. https://doi.org/10.1037/0735-7028.33.5.435

Risch, A. K., & Wilz, G. (2015). Angststörungen. In A. Maercker (Ed.), Alterspsychotherapie und klinische Gerontopsychologie. Springer Berlin Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-642-54723-2

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